Bundesregierung überrumpelt Kommunen mit Idee eines Gratis-Nahverkehrs
Mit der Idee eines kostenlosen Nahverkehrs zur Verbesserung der Luftqualität in den Städten hat die geschäftsführende Bundesregierung die Kommunen überrumpelt. In einem Brief an die EU-Kommission, welcher BERLINER TAGESZEITUNG am Dienstag vorlag, schilderten die zuständigen Minister geplante Maßnahmen, um die Luftverschmutzung zu reduzieren - darunter die Erwägung eines kostenlosen Nahverkehrs. Sie wollen damit eine Klage der EU-Kommission gegen die Bundesrepublik wegen des Dieselskandals vermeiden.
"Zusammen mit den Ländern und Kommunen erwägen wir einen kostenlosen Nahverkehr, um die Zahl der Privatautos zu reduzieren", schrieben Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD), Verkehrsminister Christian Schmidt (CSU) und Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) in dem Brief. Getestet werden sollen diese und weitere Maßnahmen zunächst in fünf Städten: Bonn, Essen, Herrenberg (Baden-Württemberg), Reutlingen und Mannheim.
Die künftige Regierung wird laut dem Brief auch einen neuen gesetzlichen Rahmen vorschlagen, der es den Kommunen erlaubt, bindende Emissionsgrenzwerte für Busse und Taxis festzulegen. Dies solle "so schnell wie möglich in Kraft treten, spätestens bis Ende dieses Jahres".
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy, erklärte dazu allerdings, er sei "überrascht über die Ankündigung der Bundesregierung". Gemeinsam mit dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und dem Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) forderte der Städtetag umgehend Finanzierungszusagen: "Der Bund muss sagen, wie er so etwas bezahlen möchte", erklärte VKU-Präsident Michael Ebling. "Zudem stelle ich mir die Frage, wie das in der Praxis umgesetzt werden soll."
Wenn der öffentliche Nahverkehr kostenlos ist, würden mehr Menschen ihn nutzen, dann sind auch neue Fahrzeuge und Änderungen an der Infrastruktur und in den Fahrplänen nötig. "Kurzfristig lässt sich so etwas nicht umsetzen", erklärte Ebling.
Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter bezeichnete die Ankündigung eines kostenlosen Nahverkehrs als "vage Idee" und "Gaukelei". Statt solcher Ankündigungen müsse die Bundesregierung endlich die blaue Plakette für schadstoffarme Dieselautos ermöglichen und die Autoindustrie zur kostenlosen technischen Nachrüstung der manipulierten Dieselautos verpflichten. Letzteres forderte auch Greenpeace in einer Stellungnahme.
In ihrem Brief kündigten die Minister "effektive und ökonomisch machbare" Nachrüstungen an. Sie versprachen zudem "Niedrigemissionszonen" für den Schwerlastverkehr in Stadtgebieten und "substanzielle" zusätzliche steuerliche Anreize für den Kauf von Elektroautos.
Der Herrenberger Oberbürgermeister Thomas Sprißler sagte nach Information von BERLINER TAGESZEITUNG, es sei ihm auch unklar, welche Maßnahme tatsächlich in seiner Stadt umgesetzt würde. Unterdessen meldete auch Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) den Zeitungen zufolge Ansprüche auf die Finanzierung eines kostenlosen Nahverkehrs an: "Wir haben dafür als einzige Stadt ein fertiges Konzept in der Schublade".
Die Vorschläge der Regierung sollen helfen, eine Klage der EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) abzuwenden. Umweltkommissar Karmenu Vella hatte Deutschland und acht weiteren EU-Staaten eine letzte Frist bis Ende vergangener Woche gesetzt, um "zusätzliche, glaubwürdige, rechtzeitige und wirksame Maßnahmen" zum Kampf gegen Luftverschmutzung vorzulegen. Der Brief auf Englisch ist datiert auf den 11. Februar.
Neben Deutschland drohen Tschechien, Spanien, Frankreich, Italien, Ungarn, Rumänien, der Slowakei und Großbritannien Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof wegen hoher Stickoxid- und Feinstaubbelastung. Alle neun hätten bis Freitag zusätzliche Informationen zu ihrem Kampf gegen die Luftverschmutzung in Brüssel eingereicht, sagte eine Sprecherin am Montag. Die Kommission will bis Mitte März entscheiden, ob sie Klagen einreicht.
(P. Rasmussen--BTZ)