Ökonomen fordern stärkere Maßnahmen gegen den doppelten Corona-Schock
Die Ausbreitung des Coronavirus trifft die Wirtschaft gleich in doppelter Weise: Produktionsausfälle bei Unternehmen führen zu einem "Angebotsschock" - zugleich gibt es einen "Nachfrageschock" von Kosumgütern bis hin zu Tourismusdienstleistungen. Führende Wirtschaftsforscher appellierten deshalb an die Bundesregierung, weitere Hilfsmaßnahmen zu ergreifen und dafür auch von der schwarzen Null Abstand zu nehmen. Gleichzeitig warnten sie, dass der Höhepunkt an Produktionsausfällen noch bevorstehe.
Aus ökonomischer Perspektive sei die Situation "eine große Gefahr", sagte der Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger am Mittwoch in Berlin. Für die Politik komme es nun darauf an, zu kommunizieren, "dass sie in der Lage ist, die wirtschaftlichen Folgen der Krise effektiv einzudämmen".
Zwar lobten die Ökonomen ausdrücklich die bereits vom Koalitionsausschuss beschlossenen Maßnahmen zum Kurzarbeitergeld. Gelänge es, Unternehmenspleiten und Entlassungen so zu verhindern, sei die Chance gut, dass sich die Konjunktur nach Abflauen der Infektionswelle schnell wieder fange und ausgefallene Produktion nachgeholt werde.
Zugleich mahnten die Forscher in einem 15-seitigen Papier, "bereits jetzt" seien weitergehende Schritte erforderlich. Vermieden werden müssen demnach vor allem Liquiditätsengpässe bei Unternehmen, die beispielsweise durch fehlende Teile unter Produktionsunterbrechungen leiden. Geeignetes Instrument hierfür sei etwa die zinsfreie Stundung von Steuervoraus- und nachzahlungen. Ziel müsse sein, "rasch und unbürokratisch dafür zu sorgen, dass die Corona-Krise nicht zu einer Insolvenzwelle für die deutsche Wirtschaft führt".
Außerdem sprechen sich die Volkswirte für ein Vorziehen des bislang für Anfang 2021 geplanten Abbaus des Solidaritätszuschlages auf Juli aus. Dies sei auch aus "psychologischen Gründen" zu begrüßen - denn dies erhöhe unmittelbar die verfügbaren Einkommen weiter Teile der Bevölkerung. Dies wiederum könne zu relativ geringen Kosten das Vertrauen in die Politik und in eine rasche wirtschaftliche Belebung nach dem Abflauen der Krise stärken. Der Koalitionsausschuss hatte sich darauf am Sonntag nicht einigen können.
Den Einsatz von sogenanntem Helikoptergeld, also frisch gedrucktes Zentalbankgeld, das an die Bevölkerung zur Stimulierung des Konsums verteilt wird, halten die Ökonomen derzeit hingegen nicht für zielführend. Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, verwies darauf, dass es derzeit ja auch Einschränkungen beim Angebot gebe.
Sebastian Dullien vom gewerkschaftsnahen IMK ergänzte, dass über Helikoptergeld erst im Falle einer längeren Schwächephase nachgedacht werden solle - und erwähnte in diesem Zusammenhang unter anderem die Möglichkeit von Steuersenkungen oder eine Erhöhung des Kindergeldes.
Als letzte Möglichkeit halten die Ökonomen es auch für denkbar, dass sich der Staat mit Eigenkapital an Unternehmen beteiligt - analog zur Bankenrettung während der Finanzkrise 2008 und 2009. Da es in der Realwirtschaft jedoch eine weitaus größere Anzahl von kleinen und mittleren Unternehmen gebe, wäre eine Umsetzung hier "mit einem enormen Verwaltungsaufwand verbunden", gaben sie zu bedenken.
Der deutsche Staat hat nach Einschätzung der Wissenschaftler "ausreichend fiskalischen Spielraum". Falls erforderlich, müsse auch "von der schwarzen Null im Staatshaushalt abgewichen werden".
Wegen der Absage von Messen, Reisen und Veranstaltungen bis in den Mai hinein und Produktionsausfällen in der Industrie halten die Ökonomen eine gesamtwirtschaftliche Rezession im ersten Halbjahr für wahrscheinlich.
Nach ihrer Einschätzung spricht vieles dafür, dass der deutschen Volkswirtschaft der Höhepunkt der Produktionsausfälle noch bevorsteht: Denn die Betriebsschließungen in China hätten Anfang Februar ihr Maximum erreicht. Aufgrund der zeitlichen Verzögerung wegen des sechswöchigen Seewegs würden sich die Auswirkungen in Deutschland "erst ab Mitte März mit voller Wucht zeigen".
Zugleich betonten die Wissenschaftler, auch bei allen wirtschaftspolitischen Maßnahmen müsse die oberste Priorität darin bestehen, "die Funktionalität des Gesundheitssystems und der medizinischen Versorgung sicherzustellen". Überfüllte oder gar geschlossene Arztpraxen und Kliniken, überforderte Gesundheitsämter, fehlende Medikamente und Testmöglichkeiten würden "maßgeblich zum Entstehen einer Überreaktion in der Bevölkerung beitragen", warnten die Forscher.
Eine solche Dynamik gelte es "unter allen Umständen zu vermeiden" - auch wenn dafür ein gezielter Verzicht auf "sozialen Konsum" wie etwa Großveranstaltungen geboten sei.
(B. Semjonow--BTZ)