Europäische Staaten gehen auf Tuchfühlung mit neuer syrischer Führung
Nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad sind mehrere europäische Staaten auf Tuchfühlung zur neuen Führung in Damaskus gegangen. Am Dienstag traf eine Delegation aus Berlin unter Leitung des Nahostbeauftragten des Auswärtigen Amts, Tobias Tunkel, nach offiziellen Angaben in der syrischen Hauptstadt Vertreter der islamistischen HTS-Miliz, darunter deren Anführer Mohammed al-Dscholani. An der seit 2012 geschlossenen französischen Botschaft in Damaskus wurde die Trikolore gehisst. Unterdessen berichtete die UN-Migrationsorganisation über die Flucht "zehntausender" Angehöriger religiöser Minderheiten.
Eine Sprecherin des Auswärtigen Amts erklärte, im Zentrum der Gespräche der deutschen Delegation mit HTS-Vertretern hätten unter anderem die Erwartungen Deutschlands "mit Blick auf den Schutz von Minderheiten und Frauenrechten" gestanden, um "eine friedliche Entwicklung in Syrien begleiten zu können".
Neben al-Dscholani, der inzwischen unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa auftritt, habe die Delegation der Bundesregierung unter anderem den für internationale Kontakte zuständigen HTS-Vertreter Said al-Attar und den Bildungsminister der von der HTS ernannten Übergangsregierung, Nadir al-Kadari, getroffen. Demnach nahm die Delegation des Nahostbeauftragten Tunkel erstmals auch die seit 2012 geschlossene deutsche Botschaft in Augenschein.
Auch der französische Sondergesandte Jean-François Guillaume reiste nach Damaskus und versprach, sein Land werde "an der Seite der Syrer" sein. Französische Sicherheitskräfte betraten die seit 2012 geschlossene Botschaft des Landes ein und hissten dort die Trikolore. Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, deren Land derzeit den Vorsitz der G7-Gruppe innehat, äußerte sich in Rom ebenfalls offen für eine Zusammenarbeit mit der syrischen Übergangsregierung, forderte aber unter anderem die Achtung der Rechte syrischer Christen und anderer ethnischer und religiöser Minderheiten im Land.
Nach "konstruktiven" Gesprächen in Damaskus kündigte die Europäische Union an, ihre diplomatische Vertretung in dem Bürgerkriegsland wieder eröffnen zu wollen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warb bei einem Besuch in Ankara beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan für eine "direkte Zusammenarbeit" mit der HTS und anderen Gruppierungen. Zudem kündigte sie eine zusätzliche Milliarde Euro für die Unterstützung syrischer Flüchtlinge in der Türkei an. Das Geld werde auch zur freiwilligen Rückkehr syrischer Flüchtlinge beitragen.
Ihre Botschaften in Syrien bereits wiedereröffnet hatten in den vergangenen Tagen die Türkei und Katar, beide Länder waren bereits vor Assads Sturz Unterstützer der Kämpfer, die ihn letztlich zu Fall brachten. Die Regierung des Iran - einer der zentralen Verbündeten Assads - erklärte hingegen, die Botschaft in Syrien erst wieder öffnen zu wollen, wenn die Sicherheitsbedingungen erfüllt seien. Am Tag von Assads Sturz waren Plünderer und Schaulustige in die iranische Vertretung in Damaskus eingedrungen.
Kämpfer der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) hatten am 8. Dezember Damaskus erobert und damit die langjährige Herrschaft Assads in Syrien beendet. Der Machthaber, dem Entführung, Folter und Ermordung von Andersdenkenden vorgeworfen werden, floh nach Russland.
Die HTS ist ursprünglich aus der Al-Nusra-Front hervorgegangen, dem syrischen Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida, und wird von den USA und anderen westlichen Staaten als "terroristisch" eingestuft. HTS-Anführer al-Dscholani gibt sich inzwischen indes moderat.
Die Leiterin der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Amy Pope, erklärte jedoch, nach Assads Sturz seien "zehntausende" Mitglieder religiöser Minderheiten aus dem Land geflohen, darunter Schiiten. Christliche Geistliche hätten erklärt, sie seien "weiterhin sehr besorgt" angesichts der Lage.
Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu unterstrich unterdessen bei seinem ersten Besuch auf dem Gipfel des Bergs Hermon in der jüngst von seinem Land besetzten Pufferzone zwischen Syrien und Israel die strategische Bedeutung des Landstrichs. Der Gipfel des Hermon diene Israel dazu, "sowohl nahe als auch ferne Bedrohungen zu identifizieren", erklärte das Verteidigungsministerium.
Israel hatte das Einrücken in die Pufferzone als "vorübergehende" und "defensive" Maßnahme angesichts eines möglichen Machtvakuums in Syrien bezeichnet. Die Pufferzone zwischen Israel und Syrien war 1974, nach dem von Syrien und Ägypten gegen Israel geführten Jom-Kippur-Krieg, eingerichtet worden.
Der militärische Anführer der HTS-Miliz, Abu Hassan al-Hamwi, forderte unterdessen die internationale Gemeinschaft auf, eine "Lösung" für die israelischen Angriffe im Süden Syriens und das "Einrücken" der israelischen Armee zu finden. Dieses Vorgehen sei "ungerecht", sagte al-Hamwi der Nachrichtenagentur AFP. Wie bereits HTS-Chef al-Dscholani kündigte auch al-Hamwi die Auflösung des bewaffneten Arms der HTS und dessen Einbindung in die syrische Armee an.
Zur Zukunft der Kurdengebiete im Norden Syriens sagte er, diese würden unter den Machtbereich der neuen Regierung fallen. Zu einer möglichen kurdischen Autonomie sagte er, seine Gruppe lehne Föderalismus ab. "Syrien wird nicht geteilt werden", sagte al-Hamawi.
Das US-Außenministerium teilte unterdessen mit, unter seiner Vermittlung sei die Feuerpause in der Gegend nahe der zwischen Kurden und pro-türkischen Milizen umkämpften Stadt Manbidsch im Norden des Landes ausgeweitet worden. Die sei zunächst über diese Woche hinaus geschehen, Washington strebe eine "möglichst lange" Ausdehnung der Waffenruhe an.
F. Dumont--BTZ