Syrien: UN-Sondergesandter warnt vor Racheakten - Alltag kehrt nach Damaskus zurück
Eine Woche nach dem Umsturz in Syrien hat der UN-Sondergesandte für das Land, Geir Pedersen, bei einem Besuch in Damaskus für Gerechtigkeit plädiert und vor Racheakten gewarnt. "Wir müssen natürlich Gerechtigkeit sehen und für Verbrechen zur Rechenschaft ziehen", sagte Pedersen am Sonntag. Gleichzeitig müsse sichergestellt werden, dass dies "durch ein glaubhaftes Justizsystem erfolgt und dass wir keinerlei Rache sehen". In Damaskus nahmen viele Menschen den Alltag wieder auf, Kinder gingen zur Schule, Geschäfte waren offen.
Am 8. Dezember hatten Kämpfer unter der Führung der islamistischen Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) Damaskus erobert und der jahrzehntelangen gewaltsamen Herrschaft der Assad-Familie ein Ende bereitet. Präsident Baschar al-Assad floh außer Landes. Die neuen Machthaber setzten eine Übergangsregierung ein, die versprach, die Rechte aller Syrer schützen zu wollen.
"Die Veränderungen, die wir jetzt nach dem Sturz des Assad-Regimes sehen, sind immens, und natürlich weckt dieser Wandel große Hoffnungen", sagte Pedersen. "Aber wir alle wissen, dass noch viele Herausforderungen vor uns liegen", gab er zu bedenken. Der UN-Gesandte, der in Damaskus Vertreter der syrischen Übergangsregierung treffen sollte, drang auf einen "politischen Prozess, der alle Syrer einschließt". Dieser müsse "selbstverständlich von den Syrern selbst geleitet werden", mit "Hilfe und Unterstützung" der internationalen Gemeinschaft.
Der UN-Gesandte ging auch auf "die Frage wirtschaftlicher Erholung" Syriens ein und sagte, dies müsse "schnell in Ordnung gebracht" werden. "Wir werden hoffentlich ein schnelles Ende der Sanktionen sehen, so dass wir wirklich ein Wettrennen um den Wiederaufbau Syriens sehen werden". Laut Pedersens Sprecherin gibt es eine "Vielzahl von Sanktionen, die von Mitgliedstaaten und Institutionen gegen Syrien und HTS und andere" verhängt worden seien. Pedersen forderte bei seinem Besuch in Syrien zudem mehr humanitäre Hilfe.
Die HTS wird von mehreren westlichen Ländern als "terroristisch" eingestuft. Sie ist aus der Al-Nusra-Front, dem syrischen Ableger des Terrornetzwerkes Al-Kaida hervorgegangen, hat nach eigenen Angaben aber seit 2016 keine Verbindungen mehr zu Al-Kaida.
Während Tausende im Land eine Woche nach dem Umsturz nach vermissten Angehörigen suchen, die vom Regime womöglich inhaftiert oder getötet wurden, kehrt vielerorts der Alltag zurück. In Damaskus öffneten am Sonntag Schulen wieder. Auch an der Universität von Damaskus wurde der Betrieb größtenteils wieder aufgenommen. Hunderte Studierende trampelten am Sonntag auf einer gestürzten Statue von Hafis al-Assad, Vater von Baschar al-Assad und dessen Vorgänger, herum. "Endlich können wir sagen, was wir denken, ohne Angst zu haben", sagte eine Englisch-Studentin.
Viele Menschen gingen am Sonntag, erster Tag der Woche in Syrien, wieder zur Arbeit. Vor den Geschäften waren Schlangen zu sehen. Christen feierten die Sonntagsmesse.
Auch auf diplomatischer Ebene gibt es erste Versuche, wieder Normalität herzustellen. Frankreich kündigte am Sonntag an, erstmals seit zwölf Jahren wieder vier Diplomaten nach Syrien schicken zu wollen. Paris werde gegenüber den neuen Behörden in Damaskus jedoch keine Naivität zeigen, sondern die Entwicklung "mit großer Wachsamkeit" verfolgen, sagte Außenminister Jean-Noël Barrot dem Radiosender France Inter. "Wir kennen die Vergangenheit einiger dieser islamistischen Gruppen", sagte er. Am Montag wollen auch die EU-Außenminister bei einem Treffen in Brüssel über die Lage in Syrien beraten.
Die Türkei, die ihre Botschaft im Nachbarland als erster Staat bereits am Samstag wieder eröffnet hatte, erklärte, sie sei bereit, die islamistische Übergangsregierung militärisch zu unterstützen, wenn dies gewünscht sei. Ankara hatte im syrischen Bürgerkrieg bewaffnete Gruppen im Nordwesten des Landes unterstützt, der bis zu der Ende November überraschend begonnenen Offensive der islamistischen Kämpfer als Oppositionsgebiet galt.
Ebenfalls am Sonntag traf eine Delegation aus Katar in Syrien Mitglieder der Übergangsregierung. Bei den Gesprächen sollte es um die Wiedereröffnung der katarischen Botschaft und Hilfsleistungen gehen.
Unterdessen teilte das russische Außenministerium mit, es habe Botschaftsmitarbeiter mit einem Sonderflug der Luftwaffe evakuieren lassen. Moskau war neben Teheran der wichtigste Verbündete von Assad.
Israel flog unterdessen nach Angaben von Aktivisten am Sonntag weitere Angriffe auf Ziele in Syrien. Der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge griff die Armee des Nachbarlandes Armeetunnel und Waffenlager im Gebiet Damir in der Nähe von Damaskus an.
Zudem erklärte die israelische Regierung, die Bevölkerung auf den besetzten Golanhöhen im syrischen Grenzgebiet verdoppeln zu wollen. Dies habe das Kabinett einstimmig beschlossen. Israel habe jedoch "keinerlei Interesse an einer Konfrontation mit Syrien", sagte Regierungschef Benjamin Netanjahu in einer Videoansprache. Die israelische Besetzung der Golanhöhen verstößt gegen das Völkerrecht und wird international kritisiert.
Seit dem Machtwechsel in Damaskus hat Israel bereits hunderte Angriffe gegen militärische Einrichtungen in Syrien ausgeführt. Israelischen Angaben zufolge soll dadurch sichergestellt werden, dass von der syrischen Armee zurückgelassene militärische Ausrüstung nicht in die Hände von Extremisten fällt. Die mit Israel verfeindete libanesische Hisbollah-Miliz hatte am Samstag erklärt, sie habe durch den Sturz von Assad "eine militärische Versorungsroute" verloren.
A. Williams--BTZ