Chef der Übergangsregierung in Syrien ruft zu "Ruhe und Stabilität" auf
Der neue Chef der Übergangsregierung nach dem Sturz des Machthabers Baschar al-Assad in Syrien hat zu "Stabilität und Ruhe" aufgerufen. In einem Interview mit dem Sender Al-Dschasira sagte Mohammed al-Baschir am Dienstag, es sei nun für das Volk an der Zeit, "Stabilität und Ruhe zu genießen" und zu wissen, dass die Regierung die Dienste erbringe, die es brauche. Al-Baschir hatte zuvor im Telegram-Kanal des syrischen Staatsfernsehens erklärt, er sei damit beauftragt worden, bis zum 1. März eine Übergangsregierung zu führen.
Bislang war al-Baschir der Chef der von der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) ausgerufenen Regierung in der Rebellenhochburg Idlib im Nordwesten des Landes gewesen. Kämpfer unter Führung der HTS hatten am Wochenende die Hauptstadt Damaskus erobert und den langjährigen Machthaber Assad gestürzt. Der Einnahme der syrischen Hauptstadt war ein rasanter Vormarsch der Milizen durch das Land vorangegangen. Assad, dem Entführung, Folter und Ermordung von Andersdenkenden vorgeworfen wird, floh nach Russland.
HTS-Anführer Abu Mohammed al-Dscholani hatte bereits Gespräche über eine Machtübergabe angekündigt und erklärt, an Folter und Kriegsverbrechen beteiligte hochrangige Ex-Beamte zur Verantwortung zu ziehen. Am Dienstag bemühte er sich, Befürchtungen über die Zukunft Syriens zu beschwichtigen: Dem britischen Sender Sky News sagte er, das Land steuere nicht erneut auf einen Krieg zu.
"Syrien wird wiederaufgebaut werden (...)", sagte al-Dscholani. "Das Land ist auf dem Weg zu Entwicklung und Wiederaufbau. Es geht in Richtung Stabilität." Die Menschen seien "vom Krieg erschöpft", fuhr er fort. "Das Land ist also nicht bereit für einen weiteren und wird auch nicht in einen weiteren geraten."
Die an der Spitze der Assad-Gegner stehende HTS war aus der Al-Nusra-Front, dem syrischen Ableger des Terrornetzwerkes Al-Kaida hervorgegangen, hat nach eigenen Angaben aber seit 2016 keine Verbindungen mehr zu Al-Kaida. Ihr Anführer al-Dscholani präsentiert sich moderat.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan waren sich laut Bundesregierungssprecher Steffen Hebestreit "einig, dass der Fall des diktatorischen Assad-Regimes eine sehr gute Entwicklung" sei. Es müsse Scholz und Erdogan zufolge nun "darum gehen, dass Syrien eine sichere Heimat für alle Syrer werde, unabhängig von deren ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit", erklärte Hebestreit nach einem Telefonat der beiden.
US-Außenminister Antony Blinken forderte alle Nationen dazu auf, einen "inklusiven" politischen Prozess in Syrien zu unterstützen. Die künftige Regierung in Damaskus müsse "glaubwürdig, inklusiv und nicht sektiererisch" sein und verhindern, dass Syrien "als Basis für den Terrorismus" genutzt werde, gab er an.
Die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) hält zwar keine syrischen Gebiete mehr unter ihrer Kontrolle, ist aber nach wie vor aktiv. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte erklärte, IS-Kämpfer hätten 54 Soldaten der Regierung gefangengenommen und getötet.
Der UN-Syrienbeauftragte Geir Pedersen rief die Miliz HTS und ihre Verbündeten auf, ihren "positive Botschaften" der Einheit an das syrische Volk nun Taten folgen zu lassen. Derzeit werde Syrien von einem "Flickenteppich" aus Gruppen kontrolliert. "Es ist wichtig, dass es nicht zu Konflikten zwischen den Gruppen kommt", sagte er.
Indes warnte EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas, Syrien dürfe kein zweites Irak, Libyen oder Afghanistan werden. Konfessionelle Gewalt gelte es ebenso zu verhindern wie ein Wiederaufleben des Extremismus und ein Regierungsvakuum.
Seit dem Beginn pro-demokratischer Proteste im Jahr 2011, die zum Bürgerkrieg in Syrien führten, starben nach einer Schätzung der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte aus dem Jahr 2022 rund 100.000 Menschen in syrischen Gefängnissen, viele von ihnen durch Folter.
In einem Krankenhaus in der Nähe von Damaskus entdeckten islamistische Kämpfer nach eigenen Angaben am Montag etwa 40 Leichen mit Folterspuren. Der Nachrichtenagentur AFP liegen dutzende Fotos und Videoaufnahmen von Leichen vor, die Spuren von Folter aufweisen, darunter ausgestochene Augen und fehlende Zähne und Blutergüsse.
Derweil weitete Israel seine Luftangriffe auf das Nachbarland massiv aus. Nach eigenen Angaben flog die israelische Armee seit Sonntag bereits rund 480 Luftangriffe auf militärische Ziele in Syrien. Die Armee habe "einen Großteil der strategischen Waffenlager" in Syrien ins Visier genommen und "verhindert, dass sie Terroristen in die Hände fallen".
Zuvor hatte Israels Verteidigungsminister Israel Katz erklärt, die Marine seines Landes habe in der Nacht auf Dienstag "mit großem Erfolg die syrische Flotte zerstört". Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warnte die neuen syrischen Machthaber davor, ein Wiedererstarken des iranischen Einflusses in Syrien zuzulassen.
Unter Assad war Syrien ein wichtiger Bestandteil der vom Iran angeführten "Achse des Widerstands" gegen Israel, zu der auch die Hisbollah-Miliz im Libanon und die Hamas im Gazastreifen gehören. "Wir hoffen, dass sich (...) entschieden gegen die israelische Besatzung stellt und gleichzeitig eine ausländische Einmischung in seine Angelegenheiten verhindert", erklärte die Hisbollah am Dienstag.
L. Andersson--BTZ