Aktivisten: Dschihadisten rücken im Norden Syriens vor - Russland fliegt Luftangriffe
Die Dschihadistengruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und mit ihr verbündete Gruppierungen haben nach Angaben von Aktivisten ihren Vormarsch im Norden Syriens fortgesetzt. Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Samstag mitteilte, brachten die Rebellen unter anderem einen Großteil der Millionenstadt Aleppo sowie den dortigen Flughafen unter ihre Kontrolle, ohne dabei auf nennenswerten Widerstand der syrischen Armee zu treffen. Das mit Syrien verbündete Russland griff mit Luftangriffen auf Aleppo in den Konflikt ein.
Die Dschihadistengruppe HTS, der syrische Ableger des Terrornetzwerkes Al-Kaida, und ihre Verbündeten hatten am Mittwoch eine überraschende Großoffensive gegen die Streitkräfte der syrischen Regierung gestartet. Bei den heftigsten Kämpfen seit 2020 wurden laut der Beobachtungsstelle bislang mehr als 320 Menschen getötet, darunter 44 Zivilisten.
Die syrische Armee bestätigten am Samstag, dass die Dschihadisten in "große Teile" von Aleppo einmarschierten. "Dutzende Männer unserer Streitkräfte wurden getötet, weitere wurden verletzt", teilte das Militär mit. Angaben der Beobachtungsstelle zufolge wurden seit Mittwoch 100 Soldaten und Kämpfer der Regierungsseite getötet und 183 Mitglieder der Rebellen.
In Aleppo stünden mittlerweile "Regierungszentren und Gefängnisse" unter der Kontrolle der Dschihadisten gab die Beobachtungsstelle weiter an. Die Rebellen hätten weite Teile der Stadt "ohne nennenswerten Widerstand" erobern können. Zum Schutz der Bevölkerung verhängten sie eine Ausgangssperre, die bis zum Sonntagnachmittag dauern sollte.
Zudem hätte sich die syrische Armee vom Flughafen am südöstlichen Rand von Aleppo "zurückgezogen" und die Dschihadisten hätten dort die Kontrolle übernommen, erklärte die in Großbritannien ansässige Beobachtungsstelle, die über ein Netzwerk verschiedener Quellen in Syrien verfügt. Es ist demnach das erste Mal, dass die dschihadistischen Rebellen die Gewalt über eine derartige Anlage in dem Bürgerkriegsland haben.
Der Iran, ein Verbündeter der syrischen Regierung von Machthaber Baschar al-Assad, erklärte, "bewaffnete terroristische Gruppen" hätten das Konsulat in Aleppo angegriffen, das Personal befände sich jedoch in Sicherheit.
Außerdem kontrollierten die Kämpfer mittlerweile "dutzende" strategisch bedeutende Orte in den Provinzen Idlib und Hama, teilte die Beobachtungsstelle weiter mit. Auch dabei seien die Rebellen auf "keinerlei Widerstand" gestoßen. Der Beobachtungsstelle zufolge zogen sich die Regierungstruppen auch aus Hama zurück, der viertgrößten Stadt Syriens, die etwa 140 Kilometer südlich von Aleppo liegt.
Die Angaben der Organisation sind von unabhängiger Seite kaum zu überprüfen. Eine Quelle aus der syrischen Armee bestritt den Rückzug der Armee aus Hama.
Die Dschihadisten der HTS kontrollierten vor der Beginn der Offensive im Norden und Westen Syriens weite Teile der Region Idlib sowie Teile der Nachbarprovinzen Aleppo, Hama und Latakia.
Angesichts der sich zuspitzenden Lage griff das mit Assad verbündete Russland in den Konflikt ein. Laut der Beobachtungsstelle wurde Aleppo erstmals seit 2016 wieder von russischen Luftangriffen getroffen. Die russische Armee teilte nach Angaben russischer Medien mit, zur Unterstützung der Regierung in Damaskus "extremistische" Gruppen in Syrien bombardiert zu haben.
Bei einem vermutlich von Russland ausgeführten Luftangriff wurden der Beobachtungsstelle zufolge 16 Zivilisten getötet. Demnach zielte der Angriff am Samstagnachmittag auf "zivile Fahrzeuge" ab.
Nach Angaben aus Moskau telefonierte der russische Außenminister Sergej Lawrow mit seinen Kollegen im Iran und in der Türkei. In den Gesprächen habe Lawrow seine Besorgnis über die "gefährliche Eskalation" der Kämpfe in Syrien zum Ausdruck gebracht, teilte das Außenministerium mit. Zudem beteuerte er, dass Syrien weiterhin unterstützt werde. Russland und der Iran sind die wichtigsten Verbündeten Syriens. Irans Außenminister Abbas Araghtschi kündigte für Sonntag einen Besuch in Damaskus an.
Unterdessen erklärten die USA, sie sähen die Ursache für den Vormarsch der Dschihadisten in Syriens "Abhängigkeit von Russland und dem Iran". Diese Abhängigkeit und "die Weigerung den 2015 vom UN-Sicherheitsrat vorgeschlagenen Friedensprozess zu verfolgen" hätten die "Bedingungen geschaffen, für das, was jetzt passiert", sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, Sean Savett. Er betonte, die USA hätten mit der von HTS angeführten Offensive nichts zu tun.
Der syrische Bürgerkrieg hatte 2011 begonnen, nachdem Assad Proteste gegen die Regierung mit Gewalt niederschlagen ließ. Eine halbe Million Menschen wurden getötet und Millionen weitere vertrieben. Mit der Unterstützung ihrer Verbündeten Russland und dem Iran erlangte die syrische Regierung 2015 die Kontrolle über weite Teile des Landes zurück. Auch die Großstadt Aleppo eroberte Assad im Jahr 2016 mit Unterstützung der russischen Luftwaffe mittels massiver Bombenangriffe zurück. Im Norden Syriens gilt seit 2020 ein von der Türkei und Russland vermittelter Waffenstillstand, der zwar immer wieder gebrochen wurde, aber die Region in den vergangenen Jahren weitgehend beruhigt hatte.
F. Dumont--BTZ