London: Britisches Parlament stimmt über das Brexit-Abkommen ab
Tag der Entscheidung in London: Das britische Unterhaus kommt am Dienstagabend zur Abstimmung (ab 20.00 Uhr) über den Brexit-Vertrag mit der EU zusammen. Eine Mehrheit für das von Premierministerin Theresa May ausgehandelte Abkommen gilt als unwahrscheinlich. Die Abstimmung dürfte das Vereinigte Königreich und die EU daher in eine neue Krise stürzen: Möglich sind ein neuer Anlauf im Parlament, ein Misstrauensvotum gegen May, ein chaotischer EU-Austritt - oder gar eine Abkehr vom Brexit.
Abgeordnete aller Parteien lehnen das Abkommen ab: Eine ganze Reihe der 317 konservativen Tories und die zehn Abgeordneten der nordirischen DUP, die normalerweise Mays Minderheitsregierung stützen, wollen gegen den Vertrag stimmen. Zwar sollen einige konservative Zweifler inzwischen doch für den Vertrag stimmen wollen. In die Ablehnungsfront reihen sich aber noch die meisten Abgeordneten der oppositionellen Labour-Partei, der schottischen SNP und der Liberaldemokraten.
Bevor über den eigentlichen Vertragsentwurf abgestimmt werden kann, muss das Parlament noch über zahlreiche Änderungsanträge entscheiden. Nach der erwarteten Abstimmungsniederlage ist May nach einem vergangene Woche angenommen Parlamentsantrag verpflichtet, binnen drei Tagen einen "Plan B" vorzulegen.
Fällt ihre Niederlage nicht zu krachend aus, könnte sie versuchen, weitere Zugeständnisse von der EU zu bekommen und dann einen zweiten Anlauf zur Annahme des Brexit-Vertrags zu nehmen. Bekommt May den Deal trotz aller Versuche nicht durchs Parlament, droht am 29. März 2019 ein chaotischer EU-Austritt ohne Abkommen.
Die oppositionelle Labour-Partei will im Fall einer Ablehnung "bald" ein Misstrauensvotum gegen May beantragen, wie Oppositionsführer Jeremy Corbyn angekündigt hatte. Laut Medienberichten könnte dies bereits am Mittwoch der Fall sein. Sollte May bei einem Misstrauensvotum durchfallen, hätte das Unterhaus 14 Tage Zeit, eine neue Regierungsmehrheit zustande zu bringen. Andernfalls muss es Neuwahlen geben.
May hatte die Abgeordneten am Montag in einer Rede noch einmal nachdrücklich vor einer Ablehnung des Vertrags gewarnt. Das Abkommen sei "nicht perfekt" und "ein Kompromiss", räumte sie ein. "Aber wenn die Geschichtsbücher geschrieben werden, werden die Menschen auf die Entscheidung dieses Parlaments blicken und fragen: Haben wir das Votum des Volkes befolgt, die Europäische Union zu verlassen? Oder haben wir das britische Volk enttäuscht?" Sollte das Unterhaus den Brexit blockieren, wäre dies ein "Angriff auf unsere Demokratie", warnte May.
EU-freundliche Abgeordnete wollen mit einem Nein zu dem Vertrag ein zweites Referendum durchsetzen. Viele Brexit-Hardliner in Mays Partei wollen dagegen lieber einen ungeordneten EU-Austritt als den ausgehandelten Vertrag. Der größte Kritikpunkt von Mays Gegnern ist die im Vertragsentwurf festgeschriebene Auffanglösung für die Grenze zu Irland. Dadurch soll eine harte Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland vermieden werden. Der sogenannte backstop sieht vor, dass das Vereinigte Königreich bis auf weiteres in einer Zollunion mit der EU bleibt. Für Nordirland würden zudem Bestimmungen des EU-Binnenmarktes weiter gelten.
EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatten am Montag in einem Brief an May versichert, dass auch die EU die Auffanglösung vermeiden wolle. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) stellte am Dienstag zwar weitere Gespräche der EU mit Großbritannien in Aussicht. Er glaube allerdings nicht, dass der Vertrag "substanziell" verändert würde, sagte Maas in Straßburg.
Die Bundesregierung wies zudem einen britischen Medienbericht über angebliche Zusicherungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an May zurück. Merkel hatte am Sonntag mit May telefoniert. Der Inhalt des Telefonats sei in britischen Medien "falsch wiedergegeben" worden, sagte ein Sprecher der Bundesregierung. Britische Medienkreise hatten berichtet, Merkel habe May "in letzter Minute" ihre Hilfe angeboten und angedeutet, dass die EU nach einer Abstimmungsniederlage weitere Zugeständnisse machen könnte. Demnach soll unter anderem der irische Regierungschef Leo Varadkar davon überzeugt werden, einem Enddatum für die Auffanglösung zuzustimmen.
(U. Schmidt--BTZ)