Menschenrechtsgericht (EGMR) billigt Sorgerechtsentzug nach Züchtigungen
Für die Mitglieder der Sekte "Zwölf Stämme" sind Rutenhiebe und andere brutale Züchtigungen eine legitime Erziehungsmethode. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sieht dies anders - am Donnerstag wies er die Klagen von vier Familien ab, denen die deutsche Justiz das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen hatte. Angesichts des Risikos "einer systematischen und regelmäßigen körperlichen Züchtigung von Kindern" seien die Gerichte in Deutschland verpflichtet gewesen, die Kinder in Obhut zu nehmen, stellten die Straßburger Richter fest.
Zwar seien die Trennung von Familien "ein sehr schwerwiegender Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens", urteilten die Richter. Die deutschen Gerichte hätten jedoch sorgfältig zwischen diesem Recht und den Interessen der betroffenen Kinder abgewägt. Sie hätten die Eltern, die Kinder und Zeugen befragt und auch ein psychologisches Gutachten in Auftrag gegeben.
Die Kläger hätten jedoch noch während der Gerichtsverfahren an der "körperlichen Züchtigung als unerschütterliches Dogma in der Kindererziehung" festgehalten. Daher hätten die Gerichte keine andere Möglichkeit gesehen, als die Kinder in fremde Obhut zu geben, stellte der Gerichtshof für Menschenrechte fest. Ziel sei gewesen, gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention eine "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" zu verhindern.
Das Urteil wurde von den sieben Richtern einer kleinen Kammer einstimmig gefällt. Dagegen können die Kläger binnen drei Monaten Rechtsmittel einlegen. Der Gerichtshof kann den Fall dann zur Überprüfung an die 17 Richter der Großen Kammer verweisen, er muss dies aber nicht tun.
Die Prügelpraxis bei zwei Gemeinschaften der "Zwölf Stämme", die in Bayern in dem Ort Wörnitz und dem ehemaligen Zisterzienserinnen-Kloster Klosterzimmern lebten, war 2012 durch Medienberichte ans Licht gekommen. Ein Fernsehreporter hatte mit einer versteckten Kamera Szenen von Züchtigungen aufgenommen und das Video anschließend an das zuständige Jugendamt und das Familiengericht in Nördlingen geschickt.
Die Jugendämter brachten schließlich im September 2013 rund 40 Kinder in Pflegefamilien oder Heimen unter. Die Kläger, denen das Sorgerecht für acht ihrer Kinder entzogen wurde, zogen zunächst in Deutschland durch alle Instanzen - bis zum Bundesverfassungsgericht, das ihre Beschwerden im Mai 2014 und im August 2015 zur nicht zulässig erklärte.
Die "Zwölf Stämme" zogen mittlerweile in die Tschechische Republik, wo körperliche Züchtigungen nicht vollständig verboten sind. Die letzten Sektenmitglieder verließen Bayern im Januar des vergangenen Jahres. Die nach den zwölf Stämmen Israels benannte Sekte wurde in der 70er Jahren in den USA gegründet. Ihre Prügelpraxis rechtfertigt sie mit Passagen aus dem Alten Testament. Die Zahl der Mitglieder wird weltweit auf rund 2000 geschätzt, in Deutschland sollen es zeitweise rund 140 gewesen sein.
Der Aussteiger Robert Pleyer beschreibt in seinem Buch "Der Satan schläft nie: Mein Leben bei den Zwölf Stämmen" die Praktiken in der Sekte, der er selbst 20 Jahre lang angehörte. Er berichtet von den körperlichen Züchtigungen, denen Kinder bereits ab zwei Jahren ausgesetzt waren, aber auch von systematischer Gehirnwäsche und einer Kontrolle des "Ältestenrats" über das Privatleben aller Sektenmitlieder. Sie würden gedemütigt, erniedrigt und entmündigt, schildert Pleyer. Damit sollten sie zu "willenlosen Jüngern Gottes" erzogen werden.
(P. Hansen--BTZ)